Während ein Wolkenbruch niederging, saßen wir im Restaurant eines Hotels in einer Region, in der die AfD mit rund vierzig Prozent gehandelt wird. Auf der Hauptstraße hatten wir den VW-Bus eines örtlichen Handwerkers vorbeifahren sehen, auf dessen Heckklappe unter dem Firmenlogo ein Reim angebracht war: “Jagt die Grünen aus dem Land, Danke sagt der Mittelstand.”
Am Abend zuvor war im rustikalen Gasthof eine Rechnung nicht präsentiert worden, alles ging aufs Haus, aber ein halbes Dutzend Selfies war notwendig geworden, ein ruhiges Gespräch nicht wirklich möglich gewesen.
Heimspielstimmung also, politische Nestwärme. Dennoch trat, während draußen das Gewitter orgelte, nun der Hotelchef an unseren Tisch und berichtete, daß zwei Ehepaare im Begriff seien, ihre Koffer zu packen und verfrüht abzureisen, “aus dem Westen”. Man habe Höcke auf dem Gang gesehen.
Eine Viertelstunde später trat auf: fleischgewordener Kirchentagsmut, evangelisch. Die Dame trug jenes Wallende, das an bunte Säcke erinnert. Das Haar: pagig, grau. Ich versuche es wortwörtlich, möchte aber nicht aufs Komma festgenagelt werden:
Meine Damen und Herrn, darf ich kurz um Aufmerksamkeit bitten? Wir wollten in dieser schönen Region noch einen weiteren Tag verbringen, und mit dem Hotel hat es nichts zu tun, das ist super, wirklich. Aber wir können nicht bleiben: Es sind Faschisten im Raum.
Erste Zwischenrufe, deutlich regionaler Ton: “Interessiert hier keinen!”, und “Hört hört!”.
Deswegen reisen wir nun ab, und das tut uns sehr leid. Aber das Hotel muß sein Verhalten überdenken.
Rufe: “Gute Reise!” und “Euch braucht hier keiner!” und “Na, dann ab nach drüben!” Abgang, die Gespräche setzten wieder ein, niemand erhob sich, niemand zog nach, später noch zwei Selfies. Einer, fein im Anzug, hatte sich und seiner Frau mal ein langes Wochenende gegönnt, sagte, während er sich ins Bild rückte: “Jetzt wollen die den ganzen Laden verbieten. Paßt auf euch auf, Leute.”
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Was ist das? Ein repräsentatives Bild oder die lustige Schilderung einer Beispielfalle? Das meint: Was darf man daraus ableiten? Überhaupt etwas allgemeines? In welche Richtung sollte man denken, planen, handeln, wenn man immer wieder solches erlebt: begeisterten, hoffnungsvollen Zuspruch, konsequente, haßerfüllte Ablehnung?
Man nimmt solche Erlebnisse und Begegnungen mit, nimmt sie wahr, hat davon zu abstrahieren, darf sich nicht einbilden, auf dieser Ebene würde etwas entschieden. Es ist die Wählerebene, die Wutebene, sozusagen ein Anekdötchen aus dem Leben des Souveräns, durchs Brennglas betrachtet. Man erkennt an einem solchen Abend zugleich den nicht mehr repräsentierten, den enttäuschten, den wieder hoffenden Bürger hier, den moralisch aufgeladenen, den zivilgesellschaftlich eingebetteten, den überheblichen dort.
Die weisungsgebundene Entscheidung des Bundesamts für Verfassungsschutz, die AfD insgesamt als gesichert rechtsextrem einzustufen, bestätigt diese beiden Seiten und treibt sie weiter gegeneinander. Diejenigen, die unseren Staat fast schon nicht mehr für eine Demokratie halten, sehen sich bestätigt; die anderen, die das Wehrhafte ihrer Demokratie erst durch ein Verbot der AfD unter Beweis gestellt sähen, rufen nun nach dem letzten Schritt.
Vor fünf Jahren galt das noch für ausgeschlossen: Zu hoch liegt doch die Hürde, wenn es um ein Parteienverbot geht. Aber mittlerweile? Wem, wenn nicht dem Vorhaben eines Verbotsverfahrens, sollte sonst diese Gesamteinstufung dienen?
Die Einstufung ist der vorletzte Schritt auf dem Weg dorthin. Sie erfolgte zu einem politisch so ungeschickt gewählten Zeitpunkt, daß sie nur als Vorstufe zum Verbot begriffen werden kann. Denn Innenministerin Faeser verkündete das Prüfungsergebnis in den letzten Tagen ihrer auslaufenden Zeit als Ministerin. Sie ist längst abgewählt, ihr Nachfolger steht fest, sie griff ihm vor, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht unabgesprochen.
Faeser belegte die Dringlichkeit nicht, mit der sie ihre Anweisung gab, auch hat sie das VS-Gutachten unter Verschluß gehalten. Diese Geheimniskrämerei bestätigt den Verdacht, daß es nichts besonders Überzeugendes sein kann, was gegen die Partei vorliegt.
Außerdem: Wenn eine Partei als Ganzes für gesichert rechtsextrem erklärt wird, dann ist in ihren Reihen keiner mehr das eigentliche Problem. Pauschal zu kriminalisieren: Das hat keine Wirkung, keine spalterische Wucht. Vermutlich gehen die Gegner mittlerweile davon aus, daß die AfD nach den Abspaltungs- und Säuberungsversuchen von Lucke, Petry und Meuthen nun den großen Burgfrieden als das starke Signal begriffen hat, das es ist: Der Feind steht nicht in den eigenen Reihen, er steht dort, wo – aufgefächert in wechselnde Regierungen und Pseudooppositionen – Politik gegen das deutsche Volk und für die je eigene Klientel betrieben wird.
Nun soll es also nicht mehr der politische, sondern der juristische Weg sein, den die Kartellparteien beschreiten, und zwar ohne Rücksicht auf das, was sonst als “Würde der Demokratie” beschrieben und hervorgekehrt wird. Einem Viertel der Wähler bundesweit und im Osten regional jedem zweiten zu unterstellen, er wisse nicht, welche Teufelei er wähle oder wisse es doch und wähle sie trotzdem: Was sagt das aus über das Vertrauen, das man diesen Wählern entgegenzubringen bereit ist?
Will man sie überhaupt noch wählen lassen, wenn sie mehr und mehr das Nichtgenehme wählen? Will man ihnen am Ende doch ihre Wahlalternative endgültig nehmen, und wird man das tun, wird man das durchziehen, weil man um die demographische Lage und die AfD-Mentalität weiß, die einen deutschen Maidan-Platz von vornherein ausschließen?
Der Publizist und VS-Experte Mathias Brodkorb hat in einem Gastbeitrag für Die Welt notiert, daß die “etablierte Politik” nun wie der Verfassungsschutz eine Entscheidung zu treffen habe:
Entweder leitet sie ein Verbotsverfahren ein und riskiert dessen Scheitern. Käme es so weit, wäre ein massiver Vertrauensverlust in das politische System und dessen Akteure unvermeidlich. Oder sie verzichtet darauf, weil sie sich den kritischen Blicken unabhängiger Richter und den noch viel höheren Hürden eines Parteiverbots nicht aussetzen will. Dann erschiene sie als unehrlich und inkonsequent. Man kann die AfD nicht glaubwürdig als Bedrohung für die Demokratie bezeichnen und dann nicht handeln.
So ist es. Höcke näherte sich, während wir ausschritten und an Höhe gewannen, diesem Kern der Lagebeurteilung: wie es dazu habe kommen können, daß wir mittlerweile ein Verbot nicht mehr für ausgeschlossen halten. Denn nichts von dem, was die AfD tue, vorhabe, programmatisch notiere und in ihren Reihen dulde, gäbe das her – dieses objektiv begründbare Verbotsverfahren, weil Gefahr im Verzug und die Demokratie vor ihren Feinden zu schützen sei.
Noch hatten wir Brodkorbs Beitrag nicht gelesen, aber was er später schrieb, drückten wir nur wenig anders aus. Brodkorb sieht
die deutsche Demokratie vor der womöglich härtesten Bewährungsprobe in ihrer Geschichte.
Höcke ging noch einen Schritt weiter: Wenn es die Rolle der AfD sei, die Bundesrepublik Deutschland und ihr Verhältnis zu einer patriotischen Opposition und Regierungsalternative zur Kenntlichkeit zu entstellen, dann sei das eben ihre Rolle. Dann gehe man in die Geschichte als diejenige nationale Bewegung ein, die den Beweis erbracht habe, daß es in Deutschland nicht mehr möglich sei, Politik für das deutsche Volk zu betreiben.
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Wir hätten noch zwei, drei Tage weiterwandern sollen, einfach wandern und manchmal lachen und dann auf eine schindelgedeckte DDR-Bude stoßen, in der jemand sitzt und wartet und sofort Bier zu zapfen und Kartoffeln zu braten beginnt.
Wir hätten auch ohne Schreibtisch und Landtag mitbekommen, wie sehr sich gerade CDU-Politiker der Gesamteinstufung bedienten und Konsequenzen anzukündigen begannen. Wir hätten ebenso im Wald und ohne Rechner zu hoffen begonnen, daß es nun endlich vorbei sei mit den Anbiederungen der AfD an die CDU, mit dieser unterwürfigen Hoffnung, man könne hier in Koalitionen gehen, und plötzlich würde aus der CDU “wieder” etwas, das sie nie war.
Wir hätten über den Merzgefallenen den Kopf geschüttelt und seine Zitterwahl als das abgelegt, was sie ist: ein großes Egal, ein Ablenkungstheater, ganz sicher nicht das Lebenszeichen einer funktionierenden Demokratie, der Denkzettel der Unabhängigkeit und des Gewissens.
Wir hätten weiterhin Dörfer und Städtchen durchquert und Stellenangebote studiert, von Geschäftsaufgaben und Räumungsverkäufen gelesen, Leute arbeiten und Leute lungern sehen, lungern trotz Sonne und Blüte und Mai. Wir hätten mehr von vorzüglich renovierter Substanz und von solchen Neubauten gesehen, die wirken, als habe man sie aus dem 3D-Drucker gelassen.
Unser Land ist eine einzige Aufgabe – im Doppelsinn des Wortes. Es macht Freude, dies neben einem Politiker abzuwandern, der Ideen hat und vieles verändern würde – ließe man ihn endlich.
Majestyk
Für jeden halbwegs normal denkenden Menschen ist offensichtlich, daß ein Parteiverbot um Konkurrenz auszubooten die sich im Aufwind befindet nicht die Demokratie rettet, sondern faktisch endgültig abschafft. Wenn die Masken endlich fallen kann dies auch eine Chance darstellen.
Um es mit Frank Zappa zu sagen:
"Die Illusion der Freiheit wird so lange aufrechterhalten, wie es profitabel ist, die Illusion aufrechtzuerhalten. An dem Punkt, an dem die Aufrechterhaltung der Illusion zu teuer wird, werden sie einfach die Kulissen abbauen, die Vorhänge zurückziehen, die Tische und Stühle aus dem Weg räumen, und man wird die Backsteinmauer im hinteren Teil des Theaters sehen."
Wenigstens kann man dann endlich mit dem Vorschlaghammer auf die Mauer einschlagen und rufen "Tear down this wall!"